GOETHE. Wenn du willst, als ob du bereits hättest

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Zum 265. Jubiläum des Genius des freien Geistes, Johann Wolfgang von Goethe.

In meinem literarischen, aber auch menschlichen Leben habe ich zwei Männer als Vorbilder – Lew Nikolajewitsch Tolstoi und Johann Wolfgang von Goethe. Wer weiss, ob das ein Zufall ist, daß beide Genies am selben Tag – den 28. August geboren sind. Aus dem Anlass des 265 Jubileums des Goethe Geburtstages wollte ich diesem Mann meine Ehre erweisen. Mein Essay über ihn veröffentlicht in September die älteste literarische Zeitschrieft der Slowakei – Slovenské pohľady (Slowakische Ansichte).

Oh du deutsches Volk, so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen. Goethes vortreffliche Charakteristik seiner eigenen Nation, die der Welt Geister der Dunkelheit und auch Genies des Lichtes schenkte. Bei allen Ehren zu Goethe nehme ich aber an, dass diese Charakteristik für jede Nation gilt. Und füge noch hinzu, dass ich nur wenige Nationen kenne, die der Welt so viel Licht und so viele Geistesgrößen gaben wie die deutsche. Karl der Große, Guttenberg, Dürer, Kopernikus, Luther, Keppler, Bach, Händel, Friedrich der Große, Kant, Lessing, Haydn, Herder, Schiller, Fichte, Beethoven, Brüder Humboldt, Hegel, Einstein, Schubert, Siemens, Marx, Koch, Nietzsche, Röntgen, Diesel, Planck, Bosch, Schopenhauer, Brüder Mann, Hesse und viele weitere. Einer von ihnen ragt jedoch heraus. Wie ein Leuchtturm zeigt er den Weg der deutschen, ebenso der weltweiten Gelehrsamkeit, Kultur und Geistigkeit: Johann Wolfgang von Goethe.

Ein Mann der beflügelt. Falls der Sinn unseres Lebens die Entelechie sein soll – das berühmte schöpferische Lebensprinzip von Aristoteles, so verkörpert Goethe dieses vollkommen. Wir brauchen nicht zu intellektuell über ihn nachzudenken, auch wenn es im Fall dieser Geistesgröße anders kaum möglich ist. Es genügt, sich bewusst zu werden, dass wir hier sind, um etwas zu hinterlassen. Goethe war sich dessen seit seiner frühen Jugend bewusst. Entelechie, Schaffenskraft, ist das Grundprinzip der Natur und sollte daher auch das Grundprinzip der menschlichen Existenz sein, gleichsam ihr integraler Bestandteil. Somit lebt nur derjenige, der tätig ist. Wer am meisten schafft, lebt am meisten. Nur derjenige kann etwas schaffen, der sich dessen bewusst ist. Goethe ist das brillante Beispiel für dieses Prinzip. Er motiviert, gibt Hoffnung, Sinn, zeigt den Weg. Als seine einzige Lebensaufgabe betrachtete er den ständigen Weg nach oben, den täglichen Kampf mit sich selbst, das tägliche Gestalten des formlosen Steins in wunderschöne, beinahe vollkommene Formen. Er konnte auch nur einen Tag nicht vergehen lassen, an dem er etwas Neues nicht gelernt hätte. Wir müssen nicht etwas sein, sollten jedoch stets streben alles zu werden.

Dieses Essay soll weder eine Analyse noch eine Liste der Ergebnisse Goethes produktiven Lebens sein, ob im Bereich der Farben, Mineralogie, Optik, Botanik, Poesie, Drama oder Politik. Meine Absicht ist es, über die Motivation und die Quellen seiner inneren Energie einen Nachdenkprozess zu starten. Kleingeistern erscheint das Leben lange, Genies empfinden es als zu kurz. Für Goethe war das Leben – auch mit seinen 83 Jahren definitiv zu kurz. Dabei benahm er sich so, als ob er ewig zu leben hätte. Auf Anmerkungen seiner Nächsten und Kritiker, dass er schneller sein sollte, erwiderte er lächelnd, er sei in keinerlei Hast im Gegensatz zu ihnen, er werde sie alle überleben. Und das tat er auch.

Er kam am 28. August 1749 in Frankfurt als Sohn einer sehr jungen, kaum achtzehnjährigen Mutter und eines neununddreißigjährigen Vaters zur Welt. Von seinen fünf Geschwistern überlebte lediglich Schwester Cornelia. Im höheren Alter gibt er zu, alles Wesentliche und Kräftige, seinen Scharfblick, Sinn für Humor, direktes Naturell, Toleranz gegenüber Menschen, von der Mutter geerbt zu haben. Zunächst studierte er Jura in Leipzig und schloss das Studium in Straßburg ab. Dort beeindruckten ihn die gotischen Kathedralen, im Turm des Straßburger Münsters verbrachte er zahllose Stunden. „Da offenbarte sich mir in leisen Ahnungen der Genius des großen Werkmeisters.“ Er sehnte sich danach, etwas ähnlich Majestätisches zu schaffen. Unter dem Einfluss von Herder begann er sich für Homer, Shakespeare, gotische Architektur und Volkslieder zu interessieren. Allmählich wurde er zur führenden Persönlichkeit der Sturm und Drang Bewegung. Zurück in Frankfurt eröffnete Goethe eine kleine Anwaltskanzlei, die er im Jahr 1772 nach Wetzlar übersiedelte, wo er sich leidenschaftlich in Charlotte (Lotte) Buff verliebte. Aus dieser unerfüllten Liebe entsprang der Briefroman Die Leiden des jungen Werther, der zum Kultbuch der damaligen jungen Generation wurde. In Wetzlar gehörte er der „Rittertafel“ und des „Ordens des Überganges“ an, beides freimaurerische, logenartige Gesellschaften. Der Schlüsselmoment in seinem Leben kam im November 1775, als er auf Einladung des achtzehnjährigen Erbherzogs Carl August in Weimar eintraf, wo er bis an sein Lebensende blieb. Damals war Weimar eine bedeutungslose, eintönige Stadt mit rund 6000 Einwohnern. Erbherzogs Mutter, die sechsunddreißigjährige Herzogin Amalia, eine der Kultur ergebene Frau, beschloss jedoch aus dieser Stadt den deutschen „Hof der Musen“ zu machen, was ihr mit Goethes erheblicher Hilfe tatsächlich gelang. Weimar wuchs damals zum Kulturzentrum Deutschlands, und auch ganz Europas heran. Man könnte sagen, dass es bis heute eines ist. Herzogin Amalia holte Wieland als Erzieher für ihren Sohn, dieser hatte jedoch auf den jungen Aristokraten einen deutlich geringeren Einfluss als der zehn Jahre ältere Goethe. Die zwei jungen Männer wurden tatsächlich zu Freunden auf Leben und Tod. Zu den erheblichen Stützen Weimars gehörte Herder, der als dreißigjähriger in die Stadt kam. Ein halbes Jahr nach seiner Ankunft wurde Goethe zum Mitglied des Geheimen Rates ernannt, des dreiköpfigen Beratergremiums des Herzogs. In seinen Kompetenzbereich gehörte auch die Armee und der erste Schritt, für den er sich in seiner neuen Funktion entschied, war diese von 532 Soldaten auf 293 zu reduzieren.

Zurück von seiner zweiten Schweizer Reise im Januar 1780, die Goethe gemeinsam mit Carl August unternahm, haben nach langen Diskussionen beide den Entschluss gefasst, sich in den Freimaurerbund aufnehmen zu lassen. In seinem Gesuch führte Goethe als einen der Gründe auf, dass er mit Personen, die er schätzen lernte, in nähere Verbindung treten wolle. Am 23. Juni 1780 erhielt er das Licht der freimaurerischen Welt, welche die Elite des Geistes und der Ethik zusammenfügte. Genau ein Jahr später wurde er zum Gesellen befördert und bereits am 2. März 1782 gemeinsam mit Herzog Carl August in den Meistergrad erhoben. Im selben Jahr wurde er zum Präsidenten der Finanzkammer ernannt und als Dreiunddreißigjähriger erhielt er vom Kaiser den Adelstitel. Sechs Jahre zuvor, im Jahr 1776, gründete der Professor des Kirchenrechts Adam Weishaupt in Ingolstadt den Illuminatenorden. Die Hauptaufgabe dieser Geheimgesellschaft war es, den jungen Akademikern alle Erkenntnisse der Wissenschaft und Theorien nahezubringen, die ihnen die Priester und Theologieprofessoren vorenthielten. Am 11. Februar 1783 wurde Goethe Mitglied der Illuminaten, wo er den geheimen Namen „Arabis“ führte. Rasch erlangte er höhere Grade in den entscheidenden Gremien dieses Ordens.

Allmählich fühlte er sich jedoch aufgrund der vielen Amtspflichten als Dichter eingeschränkt. Mit dem größten Lebensdilemma – einer Zerreißprobe zwischen dem Politiker und dem Künstler, zwischen dem Mann der Macht und dem Mann der schöpferischen Kraft, kämpfte er sein Leben lang. Er verachtete die Politik als eine Institution, die ein gemütliches und zügelloses Leben der Mächtigen auf dem kleinen Weimarer Hof begünstigte, gleichzeitig behagte ihm sein Posten des Geheimrats und Ministers, da dadurch sein hoher Lebensstandard gesichert war. Diese Schizophrenie bearbeitete er thematisch zum Beispiel im Drama Torquato Tasso, in der Beziehung zwischen dem Dichter Tasso und dem Politiker Antonio, wo er aufseufzte: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!“ Sehnsüchtig merkte er an, er würde sich gerne aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und mehr in Einsamkeit leben. Dann wäre er glücklicher und als Dichter würde er mehr hervorbringen. Dieses Dilemma war auch einer der Gründe, warum er beschloss, für fast drei Jahre Weimar zu verlassen und mit dem stillen Einverständnis des Herzogs und unter Beibehalt des ständigen Gehalts inkognito nach Italien zu reisen. „Ich muss wohl unter Kaiser Hadrian schon einmal dagewesen sein, deswegen zieht mich alles Römische so an“, rühmte er begeistert die apenninische Landschaft. Die meiste Zeit verbrachte er in der deutschen Kolonie in Rom hauptsächlich mit dem Maler Tischbein. Die Reise bezeichnete er als eine Wiedergeburt, während der er beschloss, alle Aktivitäten, die nicht mit seiner schaffenden Tätigkeit zusammenhingen, rasant einzuschränken.

Zurück aus Italien lernte er im Jahr 1788 in Weimar seine künftige Frau Christine Vulpius kennen, die er jedoch erst im Jahr 1806 heiratete. Seine Heirat mit 57 Jahren ging mit unruhigen Zeiten anher, vor allem dem Einfluss der französischen Revolution, die ihn drängten, die Einsamkeit aufzusuchen. Erst die Freundschaft mit dem zehn Jahre jüngeren Schiller (ab 1794), der an der Universität in Jena unterrichtete, brachte neuen Schwung in sein Leben. Bemerkenswert ist, dass Schiller bereits ab 1787 in Weimar lebte, die Beziehung zwischen diesen beiden Genien war anfangs jedoch mehr als kühl. Schiller warf ihm seine Lebensweise vor, insbesondere seinen intensiven Kontakt mit der verheirateten Hofdame von Anna Amalia, Frau Charlotte von Stein. Goethe nahm sogar einen ihrer drei Söhne zur Erziehung in sein Gartenhaus, von dem aus er Charlotte mehr als 1700 Briefe schrieb. Dabei handelte es sich eigentlich um unterschiedlichste Konsultationen und einen regen Meinungsaustausch zu seinem Werk.

Sein Leben lang schwankte er zwischen drei Themen – literarisches Schaffen, Politik und Frauen. Liebe auf der einen Seite und Unabhängigkeit, Ungebundenheit auf der anderen bereiteten ihm neben seinem Verhältnis zur Politik das zweite Dilemma, aus welchem er keinen Ausweg zu finden vermochte. Einerseits spürte er ein gewisses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden und suchte eine Persönlichkeit, die seiner Natur gemäß sei. Gleichzeitig fügte er jedoch hinzu, dass er vor tieferen Liebesbeziehungen stets auf der Hut war. „Hätte ich mich in irgendeinen Liebeshandel eingelassen, so würde ich geworden sein wie ein Kompass, der unmöglich recht zeigen kann, wenn er einen einwirkenden Magnet an seiner Seite hat." Die große Anzahl der Frauen, in die er verliebt war, mag auf der rastlosen Suche nach der Richtigen beruhen. Susanne Katharina von Klettenberg, Friederike Brion, Charlotte Buff, Elisabeth Schönemann (mit der er sogar verlobt war), Charlotte von Stein, Christiane Vulpius, Maximiliane Brentano, Barbara Schulthess, Ulrike von Lewetzow und viele weitere betraten sein Leben und verließen es unbemerkt. Bitter stellte er fest, dass er sich manchmal wie eine der „Billardkugeln vorkam, die auf dem grünen Tuch blind durcheinander laufen ohne voneinander zu wissen und die, sobald sie sich berühren, weit auseinander rollen." Keine einzige seiner Lieben war von steter Natur, nie war er für eine längere Zeit glücklich, wobei anzumerken ist, dass zu damaligen Zeiten kaum ein Herrscher oder gar ein Bürger in einer geregelten Ehe lebte. Im Alter erwähnte er, im Leben wahrscheinlich nur vier Wochen glücklich gewesen zu sein. Sein Familienleben war von Tragödien gekennzeichnet – vier von fünf Kindern starben kurz nach der Geburt, mit seinem Sohn August verstand er sich nicht, dieser starb als Vierzigjähriger und gab Goethe drei Enkelkinder. Goethes Frau starb zehn Jahre nach deren Hochzeit. Allmählich nahm er vom Herzog Abstand, dessen Jagden ihn störten, und mietete ein räumliches und aufwändiges Haus am Frauenplan, das als Goethes Wohnhaus in die Geschichte einging.

Sicherlich sei dem monumentalen Einfluss der Antike zu danken, dass Goethe beschloss, der Beste zu sein und sich daher lediglich mit dem und den Besten zu beschäftigten – mit römischen und griechischen Dichtern und Dramatikern der Klassik. Begierig las er Racine, Molière, Corneille, Shakespeare, Spinoza, Kant, Lessing, Swedenborg und weitere Größen. „Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten. Im Ganzen ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines Inneren; will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor klar in seiner Seele, und will jemand einen großartigen Stil schreiben, so habe er einen großartigen Charakter.“ Er forderte das Maximum und jungen Dichtern riet er, ihre Kräfte zu schonen, denn: „Wer nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben."

Später interessierte er sich intensiv für die Philosophie und Wissenschaft des Ostens. Beim Lesen seiner Gespräche mit Eckermann gewinnt man das Gefühl, er habe aus indischen Veden und der Wiedergeburt des Geistes geschöpft. „Wo immer die Sonne untergeht, gehet sie zur gleichen Zeit woanders wieder auf.“ Die heilige Dreifaltigkeit verglich er mit der indischen göttlichen Dreifaltigkeit – Brahma (Schöpfung), Vishnu (Erhaltung) und Shiva (Zerstörung).

Sein Eifer nach dem Maximum erwies sich schließlich als entscheidend beim Bestreben, aus dem unbedeutenden Weimar das Zentrum der Weltliteratur zu schaffen, welches überdauerte und bis zum heutigen Tag ein Pilgerort der Bekenner von Geist, Gelehrsamkeit und Schönheit aus aller Welt ist. Hinter diesem ungewöhnlichen Unternehmen standen jedoch nicht nur dieser Frankfurter Gigant gemeinsam mit seinem jüngeren Kumpanen Schiller, sondern ebenso gut die schöpferische Atmosphäre Weimars, welche die Herzogin Amalia geschaffen hatte und deren Sohn Carl August weiter förderte. Vielleicht kann das Phänomen Weimar auch mit Goethes verzweifeltem Bemühen nach einem einheitlichen Deutschland erklärt werden. „Wir wollen hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Menschen zu sein. Wir haben keine Stadt, ja wir haben nicht einmal ein Land, von dem wir entschieden sagen könnten: Hier ist Deutschland! Fragen wir in Wien, so heißt es: Hier ist Österreich! und fragen wir in Berlin, so heißt es: Hier ist Preußen! - Erst vor 16 Jahren, als wir endlich die Franzosen los sein wollten, war Deutschland überall.“ Er bewunderte die Titanen des antiken Griechenlands und behauptete, dass große Persönlichkeiten lediglich aus dem Schoß einer großen Nation entspringen könnten. Herders Konzept eines geistigen Deutschlands sprach Goethe stark an und schaffte den Ansatz zu jenem geistigen Reich, das er später aufbaute und auch beherrschte. „Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Ländern schwebt.“ Als ein tiefgründiger Beobachter der Natur verstand er, dass nur dasjenige gut ist, was verbindet, und schlecht, was auseinander bringt. Ihm war bewusst, dass Deutschland groß sein musste, wenn er selbst groß sein wollte. Er lebte in einer Zeit, in der einerseits die deutsche Zersplitterung und Kleinlichkeit im Vergleich zum revolutionären und postrevolutionären Frankreich Napoleons herrschte, andererseits war dies die Zeit deutscher Aufklärung, die geistig und auch moralisch reife Persönlichkeiten wie Lessing, Herder, Wieland, Kleist, Schiller, Kant hervorbrachte. „So kluge, so gebildete Menschen [wie Lessing] gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!“

Warum fasziniert uns ein Mensch, den Napoleon mit „Ecce homo“ – Sehet, welch ein Mensch – begrüßte, ähnlich wie sich seinerzeit Pontius Pilatus Jesus von Nazareth näherte. Was ist er mehr? Denker oder Dichter? Maler? Wissenschaftler? Politiker? Naturphilosoph? Wahrscheinlich ein Uomo universale – ein Universalmensch, der auf der Bühne der Menschheit nicht wie ein Komet erscheint, der aufleuchtet und sofort wieder verblasst, sondern wie ein Stern hell strahlt, den Weg weist, uns leitet, oder sogar über uns wacht. Ein Wahrheitssuchender, dem Entdecken und Schaffen größtes Vergnügen bereiteten. Bereits als junger Mann hatte Goethe ein starkes Gefühl von Gott beschenkt zu sein, wenn er fähig war, sich maximal zu konzentrieren und in nur wenigen Tagen eine Elegie, oder gar ein Theaterstück zu schreiben. Den berühmten Clavigo vollendete er in nur einer Woche. Ein Dialogist, der seine Ansichten als Repliken formulierte, ein Befürworter der Harmonie als ein Grundprinzip des Bestehens der Natur. Die Natur war für ihn eine Gottheit. „Je näher wir der Natur sind, desto näher fühlen wir uns der Gottheit. Die Natur ist aller Meister Meister, sie zeigt uns erst den Geist der Geister.“ Durch Beobachten der Natur kam er zur Einsicht, dass unser irdisches Leben lediglich ein Teil eines höheren Lebens und Daseins sei. Er war überzeugt, der Geist könne nicht zerstört werden. Diesen verglich er mit der Sonne, die ständig scheint, auch wenn sie in der Nacht unseren Augen entschwindet. Der Gedanke, ein Bürger dieses ewigen geistigen Reiches zu sein, erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Das schöpferische Prinzip war es, das seinen Glauben an den unermesslichen Geist stärkte. Falls er ein Werk in einem Leben nicht beenden sollte, so war er überzeugt, die Natur würde ihm eine andere Form und einen anderen Zeitabschnitt des Daseins zuweisen, in dem er die schöpferische Tätigkeit, die unendlich sei, weiter fortführen könnte. „Der Mensch ist das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält.“ Und Gott baut auf den besten der schaffenden Geister, die sich in unserem Universum befinden. Somit war Goethes Glaube das Wissen oder anders gesagt: „Wo das Wissen genügt, bedürfen wir des Glaubens nicht; wo aber das Wissen seine Kraft nicht entfaltet oder ungenügend erscheinen lässt, sollen wir auch dem Glauben sein Recht nicht streitig machen.“

Goethe war nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch zunehmend Naturrechtler, inspiriert von seinem Liebling Spinoza, der sich gegen Religionsdogmen stellte. Für diese Einstellung wurde er als Ketzer bezeichnet, verdammt und exkommuniziert. Hundert Jahre vor Goethe forderte Spinoza die Bibel allen zugänglich zu machen, nicht nur den Priestern. Er behauptete, Jesus sei kein Sohn Gottes, sondern der wahrhaftigste aller Menschen und versuchte ihn den einfachen Menschen näher zu bringen. Er vertrat die Überzeugung, Gott sei ein Werk der persönlichen Vorstellungskraft des Menschen, ein Werk voller Gegensätze, dem Verstand widersprechend, eine Quelle von zwischenmenschlichen Konflikten. Er formulierte die These eines neuen Gottes, eines Gottes des Verstands, den er als den Gott der Philosophen dem Gott der Theologen entgegenstellte. Goethe bezeichnete sich als einen leidenschaftlichen Schüler seines Lehrers Spinoza, der wiederum vor allem unter dem Einfluss des Rationalisten Descartes stand, von dem das berühmte Dictum cogito ergo sum – ich denke, also bin ich – stammt. Spinoza forderte die Menschen auf, sich im Leben der Leitung des Verstands unterzuordnen. Gleichzeitig gab er jedoch realistisch zu, dass alles Große und Weise in der Minderheit sei. Der Verstand würde nie an Popularität gewinnen. Leidenschaft und Gefühle könnten populär werden, aber der Verstand würde stets nur ausgezeichneten Individuen angehören. Er war ein überzeugter Rationalist, für den es in der Natur keinen Platz für Formalismus gab, alles hat seinen Platz, seine Zeit und seinen Grund. Die Natur wird durch nichts beschränkt, ist von nichts abhängig, stellt die Ursache von sich selbst dar, sie schafft sich selbst. Wenn wir das Wort Natur mit dem Wort Gott ersetzten, würde diese Definition genauso gut im Bereich der Theologie gelten. Goethes Auffassung der Natur war deutlich antitheologisch, was aber nicht bedeuten sollte, dass sie gegen Gott gerichtet war. Die Natur begab sich auf den logischen Weg vom Chaos zur Ordnung, von der Unkenntnis zum Bewusstsein, von der Barbarei zur Zivilisation, vom Obskurantismus zur Renaissanceerkenntnis. Es ist klar, dass Goethe sich unter Spinozas Einfluss in der Beziehung zur Kirche am Limit bewegen musste. Ständig hatte er Probleme mit ihr, oder besser gesagt, sie mit ihm, vor allem weil er die Theologen in Verlegenheit brachte, indem er mit der Bibel argumentierte, die er als Quelle der Erkenntnis bezeichnete, welche Theologen ihren Machtbedürfnissen und Ambitionen anpassten. Einerseits sagte er, dass alle Moralprinzipien, die ein Mensch zum Leben brauchte, in der Bibel zu finden seien, die er verantwortungsbewusst studierte, andererseits fügte er sarkastisch hinzu, dass er genauso die Bibel wie auch die Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne dreht, in Ehren hielt. Goethe selbst bezeichnete sich mal als „ausdrücklichen Nichtchristen“, mal als „fröhlichen Protestanten“. Er warf den Geistlichen Doppelzüngigkeit vor, für die Gott lediglich zur Phrase wurde. „Die Leute traktieren Gott, als wäre das unbegreifliche, gar nicht auszudenkende höchste Wesen nicht viel mehr als ihresgleichen. Nichts Gotteslästerlicheres als die alte Dogmatik, die einen zornigen, wütenden, ungerechten, parteiischen Gott vorspiegelt! Ich bin gewohnt, die Welt als Naturforscher anzusehen, und als solcher suche ich Gott.“ Im Gespräch mit Eckermann erklärte Goethe, Lessing habe ihm mal einen sehr schönen Gedanken gesagt: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: "Wähle!" fiele ich ihm in Demut in seine Linke und würde sagen: "Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"

Schon als Kind lehnte Goethe die These von der Erbsünde ab. Er selbst bezeichnete sich als Ketzer, den orthodoxe Dogmatiker am liebsten auf den Scheiterhaufen bringen würden. „Ich betrachtete jüngst ein Bild, wo Christus auf dem Meere wandelt und Petrus, ihm auf den Wellen entgegenkommend, in einem Augenblick anwandelnder Mutlosigkeit sogleich einzusinken anfängt. Es ist dies für mich eine der schönsten Legenden. Es ist darin die hohe Lehre ausgesprochen, dass der Mensch durch Glauben und frischen Mut in schwierigsten Unternehmen siegen werde, dagegen bei aufkommenden geringstem Zweifel sogleich verloren sei.“ Er glaubte immer an Gott, an den Sieg des Edlen über dem Bösen. „Ich möchte die Kirche nicht verachten, obwohl ihre Geschichte ein Produkt des Irrtums und der Gewalt ist. Dadurch, dass der christlichen Kirche der Glaube beiwohnt, dass sie als Nachfolgerin Christi von der Last menschlicher Sünde befreien könne, ist sie eine sehr große Macht. Freilich ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen und da muss sie eine bornierte Masse haben, die sich duckt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen. Die hohe, reichdotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der unteren Massen. Sie hat ihnen auch die Bibel lange genug vorenthalten, so lange als irgend möglich.“

Goethe, ebenso wie heute alle anständigen Christen, ärgerte sich über die Tatsache, dass kirchliche Amtsträger die Lehre von Christus auf den Kopf stellten. „Was sollte auch ein armes, christliches Gemeindeglied von der fürstlichen Pracht eines reichdotierten Bischofs denken, wenn es dagegen in den Evangelien die Armut und Dürftigkeit Christi sieht, der mit seinen Jüngern in Demut zu Fuß ging, während der fürstliche Bischof in einer von sechs Pferden gezogenen Karosse einherbraust.“ Im Faust äußerte er sich über die Kirche im ähnlichen Sinne: „Die Kirche hat einen guten Magen, hat ganze Länder aufgefressen, und doch noch nie sich übergessen“. Dennoch lebte sein Glaube weiter: „Sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, begriffen und verinnerlicht hat, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen. Auch werden wir alle nach und nach aus einem Christentum des Worts und Glaubens immer mehr zu einem Christentum der Gesinnung und Tat kommen.“ Was Katholiken betraf, so fügte er hinzu: „Die Katholiken vertragen sich untereinander nicht, aber sie halten immer zusammen, wenn es gegen einen Protestanten [gegen jemanden, der ihre Dogmen verletzt] geht. Sie sind einer Meute Hunden gleich, die sich untereinander beißen, aber, sobald sich ein Hirsch zeigt, sogleich einig sind und in Masse auf ihn los gehen." Über Gott sagte er: „Hinter jedem Wesen steckt die höhere Idee. Das ist mein Gott. Ich erwarte nicht, dass er Wunder tut, dass er seine eigenen Gesetze aufhebt. Diese Gesetze an sich sind Wunder. Ich denke an die Metamorphose in der Pflanzen- und Tierwelt, wo allmählich die Knospe zur Rose, das Ei zur Raupe, die Raupe zum Schmetterlinge wird. Und schauen sie nur auf die Hand des Meisters, die den Tasten des Klaviers wunderbare Harmonien entlockt.“
Man wusste über Goethe, dass er beim Anhören mancher Werke von Bach, Mozart oder Beethoven die Tränen kaum zurückhalten konnte, oder gar unfähig war aus Überempfindlichkeit der Musik zuzuhören. Denn „sie steht so hoch, dass kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht, und von der niemand im Stande ist, Rechenschaft zu geben.“ Alles Schöpferische, und die Natur selbst als bestes Beispiel, ist eine Ausdrucksform des Göttlichen. Shakespeare, Mozart und Rafael repräsentierten in seinen Augen ausgezeichnete Beispiele der Schaffenskraft. Genies betrachtete er als Gottes Offenbarung, als Produktivität des höchsten Geistes, als Gefäße, in welche die göttliche Kraft kontinuierliche schöpferische Inspiration fließen lässt. „Alles Große, Edle, Schaffende ist ein Ausdruck des Göttlichen. Freilich lässt sich das Göttliche niemals direkt von uns betrachten... wir nehmen es wahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. Die Gottheit ist wirksam im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Das Einzige, was den Menschen voran treibt, ist Änderung. Ich erweise Christus anbetende Ehrfurcht und beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. Gott hat sich aber nicht bloß in ihm und einigen großen Juden offenbart; wir finden ihn auch wirksam in Chinesen, Indern, Persern und Griechen, und ebenso in unserer heutigen Welt. Wenn man jedoch die Leute reden hört, so sollte man fast glauben, sie seien der Meinung, Gott habe sich seit jener alten Zeit ganz in die Stille zurückgezogen.“ Bei allem Respekt und Ehrfurcht vor der Natur und bei einem unglaublichen Mangel an Liebe zur Frau, die Goethe praktisch zeitlebens nicht erfahren hatte, wiederholte er unentwegt, dass der wichtigste Ausdruck des Göttlichen in uns die Liebe sei. „Überall wo wir das Geniale wahrnehmen, haben wir eine göttliche Offenbarung. Und ebenso finden wir Gottesgeist überall, auch in der untersten Menschen- und Tierwelt da, wo wir Güte und Liebe und was sonst die Welt erhält und vorwärts bringt, antreffen. Denken wir nur an die Fürsorge der Eltern für ihre Nachkommen! Die göttliche Kraft ist überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam.“ Ohne sie könne die Welt nicht existieren. Mit Rührung erinnerte er sich an ein Ereignis, das ihm mal sein Freund Eckermann, der ebenfalls ein großer Naturfreund war, erzählt hatte. Während eines Spaziergangs im Wald fand er zwei kleine Zaunkönige, die offensichtlich aus dem Nest gefallen waren. Als er nach mehreren Tagen an derselben Stelle vorbeiging, fand er die Zaunkönige nach einigem Suchen in einem Rotkehlchennest; das alte Rotkehlchen hatte sie hineingenommen und fütterte sie nun zusammen mit den eigenen Jungen. Zu dieser Geschichte fügte er hinzu: „Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten.“

Von allen Tugenden schätzte er drei am meisten – die Ehrfurcht, die Tätigkeit, die Wahrhaftigkeit. Schöpferische Tätigkeit sei die rechte Weise, Gott zu danken für die Gaben, die er uns verliehen hat. Derjenige, den Gott mit mehr Talent beschenkt hatte, sollte mehr danken. „Unablässige Tätigkeit ist zugleich das große Heilmittel für seelisches Leiden und die Grundlage des menschlichen Glückes. Sie ist auch der Spiegel, in dem wir uns und unseren Wert erkennen können. Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. - Was aber ist deine Pflicht?“, fragt er und antwortet zugleich: „Die Forderung des Tages.“ Diese erkennt er vor allem in der Wahrheit. „Die Wahrheit ist die Tugend, für die ich am meisten gelitten habe. Den Leuten gefällt meine Echtheit nicht.“

Goethe war ein Mann des freien Willens, der sich keinen gängigen Konventionen unterwarf. Er selbst hielt sich für liberal, was in einem zurückgebliebenen, religiös fundamentalen, auch wenn evangelischen Norddeutschland nur eine Folge haben konnte, und zwar eine Menge Feinde. Er wusste, sobald er sich auf die Seite der Wahrheit begab, würde man ihn verfolgen. „Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Ich habe in meinem Beruf als Schriftsteller nie gefragt: was will die große Masse und wie nütze ich dem Ganzen? Sondern ich habe immer nur dahin getrachtet, immer nur auszusprechen, was ich als gut und wahr erkannt hatte.“ Ein gewisser Trost sei ihm gegönnt im Wissen, was alles Molière, Voltaire, Rousseau, Byron und weitere Persönlichkeiten ebenfalls erdulden mussten, um der Kritik der einfältigen und faulen Masse standzuhalten.

Seine Gegner, von denen er eine Unzahl hatte, unterteilte er in mehrere Kategorien. „Zuerst nenne ich meine Gegner aus Dummheit; es sind solche, die mich nicht verstanden, und die mich tadelten, ohne mich zu kennen. Diese ansehnliche Masse hat mir in meinem Leben viel Langeweile bereitet; doch es soll ihnen verziehen sein, denn sie wussten nicht was sie taten. Eine zweite große Menge bilden sodann meine Neider. Diese Leute gönnen mir das Glück und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich durch mein Talent mir erworben. Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus Mangel an eigenem Erfolg meine Gegner wurden. Viertens nenne ich meine substanziellen Gegner. Denn da ich ein Mensch bin und als solcher menschliche Fehler und Schwächen habe, so können auch meine Schriften davon nicht frei sein. Da es mir aber mit meiner Bildung ernst war und ich an meiner Veredelung unablässig arbeitete, so war ich im beständigen Fortstreben begriffen.“ Auf seine Art und Weise war er den letzteren Opponenten dankbar, denn nur in Konfrontation wächst der Mensch, oder fällt, was immer noch besser war als eine Stagnation, denn aus den eigenen Niederlagen lernt man am besten. Goethe wollte ein wirklicher Mann sein und dazu brauchte er große, ehrwürdige Gegner. Einer seiner stärksten Charakterzüge war die Selbstbeherrschung. So sagte er: „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten; nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei.“

Neben Spinoza übte auf Goethe sein Zeitgenosse Immanuel Kant einen bedeutenden Einfluss aus, ein Mann, der zeitlebens seine Geburtsstadt Königsberg (Kalinigrad) praktisch nie verlassen hat und dennoch gehörte er damals zu den Männern mit dem weitesten Horizont. Einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen klassischen Idealismus, Fortsetzer der französischen Aufklärung, die schließlich zur Revolution führte. Kants Einfluss auf Goethe war jedoch eher paradox. Die Abstraktheit von Kants Reflexionen, sein Nachdenken über das Nachdenken selbst widerstrebten Goethe, zugleich fühlte er sich von Kants tiefer Verwandtschaft zwischen künstlerischem Schaffen und dem Naturgeschehen angezogen. Im Einklang mit ihm behauptete er, dass Denken eine übliche Arbeitstätigkeit sei. Das Schreiben betrachtete er als einen Ausdruck des Denkens. „Dem Papiere gegenüber, fühle ich mich durchaus frei und ganz im Besitz meiner selbst; das schriftliche Entwickeln meiner Gedanken ist daher auch meine eigentliche Lust und mein eigentliches Leben, und ich halte jeden Tag für verloren, an dem ich nicht einige Seiten geschrieben habe, die mir Freude machen.“ Das Papier war für Goethe der Boden, die Feder der Samen. Als sein Lebenswerk wird der Faust angesehen. Dies gilt jedoch lediglich im Bereich der Literatur, da das Lebenswerk dieser Geistesgröße sein Leben an sich ist. Faust, ebenso wie Goethe, war kein Gottsuchender, sondern er verwirklichte ihn in sich selbst. Er führte ein extravagantes Leben, dessen größte Extravaganz eine geradezu fatale Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis war, die dem Motto „Wissen ist Macht“ entsprechen könnte. Das Wissen befreite ihn. „Je mehr der Mensch weiß, desto freier ist er. Nicht das macht frei, dass wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben dass wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, dass wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein.“

Wenn wir Goethes Weg auf der Suche nach Macht nachvollziehen wollen, müssen wir ihn ausschließlich als einen Weg der Suche nach Wissen verstehen. Sein Ideal war es, die Welt mit dem menschlichen Geist zu beherrschen. Er begriff, dass wenn der Mensch die Natur auf ethische Weise beherrschen will, muss er zunächst sich selbst beherrschen. Deshalb führte er unentwegt einen unerbittlichen Kampf mit seinen eigenen Schwächen. Er überwand sie, indem er ihnen entgegen trat. So bekämpfte er seinen Widerwillen gegen Trommeln, indem er neben trommelnden Soldaten schritt, sein Schwindelgefühl, indem er auf den hohen Turm eines Domes stieg und von einer engen Fläche in die Tiefe schaute, seine Angst vor Dunkelheit versuchte er mit Spaziergängen auf Friedhöfen zu meistern. „So arbeite ich bei hohem Barometerstande leichter als bei tiefem; da ich nun dieses weiß, so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengung die nachteilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt mir.“ Gemeinsam mit Faust tötete er in sich den Lebemann, denn er erkannte, dass lediglich die Weisheit der Tat und Poesie der Arbeit Sinn haben. Er bezwang den Teufel Mephistopheles nicht, sondern stand über ihm, so dass er letztendlich zugab, Teil einer Kraft zu sein, die stets Böses anstrebt und dabei ständig Gutes schafft. Er wollte das Böse nicht besiegen, sondern übertrumpfen. Vielleicht auch deshalb macht sein Mephisto einen fast sympathischen Eindruck. Der Dichter sucht im Faust, einem Werk vergleichbar wohl nur mit Dantes Göttlicher Komödie, oder Shakespeares Theaterstücken, den Sinn des menschlichen Lebens, die Berufung des Menschen auf Erden. Er weiß, dass der einzige Weg der Erkenntnis das tatsächliche Leben, die Tat ist, daher will er mehr leiden, arbeiten und leben als andere. Ohne Erfahrung ist das Studium nutzlos, Charakter und Persönlichkeit entwickeln sich im Laufe der Welt und des täglichen Strebens, Kämpfens und Wirkens. „Wir behalten von unseren Studien am Ende doch nur das, was wir praktisch anwenden."

Als Vorbild eines Mannes mit maximalem Willen, Talent und Tatendrang galt für ihn Napoleon. Er zitierte ihn oft. „Macht den Weg frei fürs Talent“, oder „Grau ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“ Ein richtiger Mann war in seinen Augen derjenige, der den Augenblick ergreifen konnte. Er behauptete außerordentliche Menschen wie Napoleon würden ihr Leben lang pubertieren, die anderen nur einmal. Für ihn sei Napoleon für alle Herrschenden ein Vorbild, was dessen Einstellung zu den Menschen anbelangte. Er betonte, dass Napoleon während der Cholera-Epidemie, die auch die französische Armee erreicht hatte, die Lazarette mit erkrankten Soldaten besuchte, wobei er behauptete, der Wille könne auch die schlimmste Krankheit überwinden. Napoleon erkrankte nie an Cholera. „Der Geist muss dem Körper nicht nachgeben!“ sagte er. Solange der Geist den Körper überragt, sind wir gesund. Goethe verglich Napoleon mit Alexander dem Großen. Beide waren gleich jung und trotz des jungen Alters wussten sie mit großen Angelegenheiten der Welt sicher umzugehen. „Napoleon behandelte die Welt wie Johann Nepomuk Hummel seinen Flügel; beides erscheint uns wunderbar, wir begreifen das eine so wenig wie das andere, und doch ist es so und geschieht vor unseren Augen. Napoleon war darin besonders groß, dass er zu jeder Stunde derselbe war. Vor einer Schlacht, während einer Schlacht, nach einem Siege, nach einer Niederlage, er stand immer auf festen Füßen und wusste stets klar und entschieden, was zu tun sei. Er war immer in seinem Element und war jedem Augenblick und jedem Zustande gewachsen, so wie es Hummel gleichviel ist, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im Bass oder im Diskant spielt. Das ist die Fazilität, die sich überall findet, wo ein wirkliches Talent vorhanden ist, in Künsten des Friedens wie des Krieges, am Klavier wie hinter den Kanonen.“ Napoleon selbst sagte zu Goethe er habe in seiner Feldbibliothek auch seinen Werther. Landsleute warfen Goethe vor, er würde die Franzosen zu sehr bewundern. Ihrer Kritik entgegnete er mit den Worten: „Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdanke!" Er warnte die Deutschen vor Hassgefühlen gegenüber Franzosen, da die heftigste Abneigung gegen eine Nation auf den untersten Stufen der Kultur zu finden sei und von einem erbärmlichen Kulturniveau der deutschen Nation zeugen würde. „Es gibt aber eine Stufe, wo er [der Hass] ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß.“ Er konnte nicht hassen. Auch wenn er Napoleon, den mächtigsten Mann der damaligen Welt, in Ehren hielt, hätte er sicherlich von einer Bemerkung nicht ablassen können, als sie im Jahr 1816 während eines Treffens in Erfurt gemeinsam den Sonnenuntergang beobachteten: „Seht, Eure Majestät, die Sonne. Welch ein großartiges Ding und doch geht sie nieder.“

Goethe, der Perikles Weimars, steht in der Geschichte aufrecht und stolz, in seinem typischen grauen Morgenmantel mit Händen hinter dem Rücken, mit einem gesunden, gebräunten Gesicht, großen, durchdringenden Augen, denen nichts entkommt, und seine ruhige, wohlklingende Stimme spricht die Menschheit mit Worten der Weisheit und Liebe an. Laut Eckermann zeigte Goethe noch mit achtzig Jahren reges Interesse an Neuem, forschte, suchte, wollte immer voran, lernte weiter. Jugendlichen Elan und eine lebenslange Begeisterung, die Goethe bei talentierten Menschen beobachtete, konnte er selbst vorzeigen. Er glich einem unausschöpflichen Brunnen, aus dem man nehmen konnte und doch regenerierten stets seine Kräfte. In der Geschichte der Menschheit war er wohl der einzige Mensch, in dem sich ein ausgezeichneter Dichter, Denker und Gelehrter vereinten. Uomo universale. Eines Abends, als er bereits spürte, dass sich sein Leben zu Ende neigte, stand er beim Diktieren an seinen treuen Eckermann am Fenster, betrachtete die untergehende Sonne und machte eine Anmerkung, als ob für sich selbst: „Untergehend sogar ist´s immer dieselbige Sonne“. Goethes physische Sonne ging am 22. März 1832 in Weimar unter, seine geistige Sonne wird jedoch der Menschheit weiterhin auf dem Weg der Wahrheitssuche scheinen, solange sie diesen Weg beschreiten wird.

Jozef Banáš 

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