Vorwort: Jubelzone, Peter Pragal
Diplomaten neigen häufig dazu, nach der Pensionierung ihre Erfahrungen und Erlebnisse aufzuschreiben und als Buch zu veröffentlichen. Manche schildern Geschichte und Menschen der Länder, in denen sie Dienst taten. Andere beschränken sich auf die Analyse politischer Vorgänge. Und wieder andere stellen sich selbst in den Mittelpunkt und erzählen ausschweifend ihr berufliches Leben. Jozef Banás wählte keine dieser publizistischen Formen. Er schrieb einen Doku-Roman, in dem er Zeitgeschichte mit dem Schicksal von teils fiktiven, teils authentischen Personen geschickt verknüpft.
Die dramatisch zugespitzten Lebensläufe seiner Protagonisten, eingebettet in die jüngere Historie Mittel- und Osteuropas, ermöglichen es vor allem jüngeren Lesern, rational und emotional nachzuvollziehen, was sich seit Ende der 60er Jahre zwischen Moskau, Kiew, Bratislava, Prag und Berlin bis zum Fall des Eisernen Vorhangs ereignet hat. Und in welche Konflikte Menschen gestürzt wurden, die unter den Bedingungen von kommunistischen Diktaturen leben mussten. Wie sie sich beugen und lavieren mussten und trotzdem versuchten, ihre Selbstachtung zu wahren.
Hauptfiguren in diesem Polit-Thriller sind die Ukrainerin Alexandra Josifowa, genannt Sascha, ein Westdeutscher mit Vornamen Thomas und der mit ihm befreundete Slowake Jozef Balaz, der unverkennbar die Züge des Autors trägt. Ihre an persönlichen Schicksalsschlägen reichen Lebensgeschichten spiegeln die Erfahrungen wider, die viele Menschen ihrer Generation diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs gemacht haben: Verstrickungen in den politischen Extremismus im Westen, Machtkämpfe, Opportunismus und Treuebruch im Osten. Aber auch Beispiele von selbstlosem Handeln und grenzüberschreitender lebenslanger Freundschaft.
Ich habe Jozef Banás in den 80er Jahren in Ost-Berlin kennengelernt. Ich war damals DDR-Korrespondent des Hamburger Magazins Stern. Zugleich war ich in Prag und anderen Hauptstädten des Ostblocks akkreditiert. In der Botschaft der damaligen CSSR bekam ich das Visum für meine Reisen an die Moldau. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich regelmäßig mit dem Presse-Attaché unterhalten. Jozef Banás war anders als die Funktionäre aus dem DDR-Außenministerium: Locker und offen. Einer, der seine kritische Meinung nicht hinter Phrasen versteckte. Später sind aus den beruflichen auch private Kontakte geworden.
Der lebenskluge Diplomat, der Apparatschiks herzlich verabscheute, hat in seinem Gastland genau hingeschaut, wie ein guter Journalist, der er auch war. Die Schilderung des alljährlichen Volksaufmarsches am 1. Mai, die dem Buch den Titel gab, ist durchzogen von bissiger Ironie. Dem Leser wird die Verlogenheit des inszenierten Spektakels vor Augen geführt, bei dem die Mächtigen auf der Tribüne den Untertanen huldvoll winkten, während diese ihre Führer mit vorgegebenen Parolen hochleben ließen. Aber kaum waren die Jubler aus dem Blickfeld der Fernsehkameras verschwunden, war es mit der Begeisterung für den realen Sozialismus vorbei. Am Ende warfen sie ihre Transparente in bereit gestellte Container, die gleich nach dem Ende des Umzugs zur Müllkippe gebracht wurden.
Köstlich auch zu lesen, wie Balaz alias Banás mit seinem Hang zu kleinen Provokationen Volkspolizisten in Verlegenheit brachte. Als wohl einziger Botschaftsangehöriger in Ost-Berlin fuhr er einen Trabant, einen Zweitakter aus Zwickau mit rotem Diplomaten-Kennzeichen. Es bereitete ihm großes Vergnügen, wenn er bei Verkehrsverstößen gestoppt und vom Uniformierten als vermeintlicher DDR-Bürger barsch angeschnauzt wurde. Kaum hatte er dem verdutzten Ordnungshüter seinen roten Ausweis gezeigt, murmelte der Entschuldigungen und schlich davon.
Viele Abschnitte der „Jubelzone“ lesen sich wie ein Geschichtsbuch. In knappen Szenen lässt der Autor Politiker, Militärs und Geheimdienstler zu Wort kommen, wie sie Entscheidungen von historischer Tragweite vorbereiten und treffen. Das beginnt im Moskauer Kreml beim Abwägen des Für und Wider beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in die Tschechoslowakei und endet bei der Entmachtung von Michail Gorbatschow und dem Zerfall der Sowjetunion. Einige Dialoge, die zur Zeit des „Prager Frühlings“ spielen, sind gut recherchiert und wirken authentisch. Andere sind fiktiv, kommen aber der historischen Realität ziemlich nahe. Überdies fesselt das Buch mit der Wiedergabe von Begebenheiten aus dem diplomatischen Alltag, wie sie nur jemand beschreiben kann, der dabei gewesen ist.
Die Protagonisten des Buches sind verwoben mit Ereignissen, die einst Menschen aufrüttelten, in Atem hielten oder Widerspruch provozierten. Die Studentenunruhen in West-Berlin, der RAF-Terror in Westdeutschland, Willy Brandts Kniefall in Warschau kommen ebenso vor wie der Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan, Gorbatschows Reformpolitik, die friedliche Revolution in der DDR, die „samtene“ in der Tschechoslowakei und der Fall der Berliner Mauer.
Jozef und Sascha sind keine Heldengestalten. Sie erleben die Ohnmacht des Individuums in totalitären Gesellschaften. Sie leiden unter Korruption, Misswirtschaft und der Unfähigkeit von Funktionären. Sie begehen Irrtümer und brauchen lange, um Lügen und Propagandabilder zu durchschauen. Sie sind der Versuchung ausgesetzt, Geheimdiensten ins Netz zu gehen und Verrat an Mitmenschen zu üben. Und sie fühlen sich gedemütigt, wenn sie um einiger Vorteile willen Kompromisse eingehen. Aber sie haben nie den Willen aufgegeben, anständig zu bleiben und nicht dem Beispiel der vielen „Wendehälse“ nachzueifern, die nach der Umwälzung in post-sozialistischen Staaten skrupellos an ihren Karrieren arbeiteten.
Die Schlussszene, bei der Jozef und Sascha, einst ein Liebespaar und seit langem an andere Partner gebunden, in einem ukrainischen Dorf zusammentreffen, ist mit einer einfühlsamen Zartheit geschrieben, die anrührt.
„Jetzt reden wir schon seit zwei Tagen“, lässt der Autor seine Romanfigur Jozef zu seinem Freund Thomas sagen. Sie hatten sich, bedingt durch die Wirren der europäischen Teilung, Jahrzehnte nicht gesehen. „Aber wie soll man in zwei Tagen die ganze Geschichte Mitteleuropas durcharbeiten.“ Was sein anderes Ich im Buch für unmöglich hält, ist dem Autor auf lesenswerten 470 Seiten durchaus gelungen.
Peter Pragal, Journalist, 71, in Breslau geboren, in der Zeit wenn der Autor in der ehemaligen DDR als Diplomat tätig war, bekleidete Peter Pragal den Posten des Korrespondenten von Magasin Stern in der DDR und der Tschechoslowakei